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| Pressemitteilung

Sprunghafte Veränderungen im arktischen Ökosystem erforschen

Erste HZG-Expedition des ECOTIP-Projekts auf Spitzbergen gestartet

Wie sich die marinen Ökosysteme in der Arktis verändern und welche Auswirkungen das auf die dort lebende Bevölkerung hat, wird jetzt im Projekt ECOTIP untersucht. Insgesamt 16 Forschungseinrichtungen aus zehn Ländern sind an dem multidisziplinären von der EU geförderten Projekt beteiligt. Das Helmholtz-Zentrum Geesthacht – Zentrum für Material- und Küstenforschung (HZG) ist einer der Projektpartner und erhält dafür rund 700.000 Euro. Ziele der Forschungen des HZG im Rahmen von ECOTIP sind zum einen Expeditionen in die Arktis, um die Umwelt vor Ort untersuchen zu können, und zum anderen Modellierungen des Ökosystems, um bessere Vorhersagen und letztendlich Entscheidungen auf politischer und regulativer Ebene ermöglichen zu können.

Claudia Schmidt, Chantal Mears und Torben Stichel nehmen Wasser- und Sedimentproben am Übergang des Schmelzwassers des Gletschers „Midtre Lovénbreen“ im Kongsfjord.

Von links nach rechts: Claudia Schmidt (HZG), Chantal Mears (HZG) und Torben Stichel (AWI) nehmen Wasser- und Sedimentproben am Übergang des Schmelzwassers des Gletschers „Midtre Lovénbreen“ im Kongsfjord. Foto: AWI/Grit Steinhöfel

Der Arktische Ozean und seine angrenzenden Meere verändern sich schnell – als Reaktion auf den Temperaturanstieg, das schmelzende Meereis und die kombinierten Auswirkungen zusätzlicher Stressfaktoren für das Ökosystem wie invasive Arten und Verschmutzung. Solche abrupten, manchmal irreversiblen Veränderungen können in einer Art Kettenreaktion unvorhersehbare Auswirkungen auf das gesamte Ökosystem haben. Die arktische Meeresregion ist sehr anfällig für eine Reihe von sogenannten Kipppunkten, die eine Transformation des Systems von noch nie dagewesenem Ausmaß bewirken könnten. Auf dem Spiel stehen zwei Komponenten des Ökosystems, auf die auch die Menschen angewiesen sind: die Kohlenstoffbindung, die eine wichtige Rolle im globalen Klimasystem spielt, und die Fischerei, die das wirtschaftliche Fundament vieler arktischer Gemeinschaften bildet. „Ich freue mich sehr, dass wir Teil dieses gesellschaftlich relevanten Projekts sein können“, so Dr. Helmuth Thomas, Leiter der Abteilung Alkalinität am HZG.

Vom Gletscher bis zum Fjord

Claudia Schmidt nimmt Wasser- und Sedimentproben an einem Schmelzwasserfluss des Gletschers „Midtre Lovénbreen“.

Claudia Schmidt (HZG) nimmt Wasser- und Sedimentproben an einem Schmelzwasserfluss des Gletschers „Midtre Lovénbreen“. Foto: AWI/Grit Steinhöfel

Aktuell sind zwei Wissenschaftlerinnen des HZG vor Ort in der Forschungsstation AWIPEV-Basis auf Spitzbergen. Die Expedition kann Dank des Alfred-Wegener-Instituts stattfinden: Ursprünglich war die Fahrt nach Ny Alesund von Expeditionsleiter Dr. Torben Stichel und Dr. Grit Steinhöfel (beide AWI) mit Kollegen aus den USA geplant, die aufgrund der Coronapandemie jedoch nicht einreisen duften. Die HZG-Wissenschaftlerinnen konnten einspringen und die Probennahmen für das ECOTIP-Projekt nutzen. Die Forschenden werden in den kommenden zwei Wochen Gletscherwasser, Eis und Fjordwasser beproben. Anschließend werden Parameter wie der pH-Wert, Kohlenstoffkonzentration, Partikel und Metallkonzentrationen gemessen. Ziel der HZG-Aktivitäten ist es, Hintergrundveränderungen zu erkennen. Helmuth Thomas erklärt: „Durch die steigenden Temperaturen schmelzen die Gletscher stärker ab. Es gelangt also mehr Frischwasser in die Fjorde. Wenn vom Wasser auf dem Weg vom Gletscher durch den Fjord bis ins Meer mehr Schadstoffe oder Partikel mitgenommen werden, könnte es im Fjord trüber werden, was weniger Phytoplankton und somit weniger Nahrung für größere Lebewesen bis hin zu Walrossen bedeuten könnte. Allerdings spielen in diesen Verkettungen nicht nur einzelne Faktoren eine Rolle, sondern es sind sogenannte multiple Stressoren, die wir noch nicht verstehen: Welche Auswirkungen hat das Zusammenspiel verschiedener Faktoren?“

Kipppunkte identifizieren und definieren

Claudia Schmidt und Chantal Mears am Schmelzwassersee

Links Claudia Schmidt (HZG) und rechts Chantal Mears (HZG) am Schmelzwassersee. Foto: AWI/Grit Steinhöfel

Das Projekt ECOTIP möchte diese Wissenslücken durch eine einzigartige Zusammenarbeit von Experten aus verschiedenen Disziplinen schließen. Beteiligt sind Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den verschiedensten Bereichen wie Ökologie, Sozioökonomie, physikalische Ozeanographie und Paläoozeanographie. Der Fokus der Forscherinnen und Forscher liegt darauf, Schwellenwerte und Kipppunkte zu definieren. Schwellenwerte sind die Punkte, ab denen eine Veränderung nicht mehr aufzuhalten ist. Wenn die Änderung schließlich – oft sprunghaft – eintritt und sich das Ökosystem grundlegend verändert, sprechen die Forschenden von einem Kipppunkt.

Das ECOTIP-Projekt wird durch den Dialog mit politischen Entscheidungsträgern, der Industrie sowie lokalen und indigenen Gemeinschaften in der Arktis bereichert. Das Ziel ist es, fundierte wissenschaftliche Erkenntnisse zu gewinnen, die die Menschen in die Lage versetzen, Entscheidungen über Anpassungs- und Managementstrategien zu treffen. Schlussendlich soll eine nachhaltige Nutzung der Ökosysteme für kommende Generationen gewährleistet werden.

"Die arktischen Meere sind extrem wichtig sowohl für das globale Klima, als auch für die lokale Fischerei. Dennoch wissen wir viel zu wenig über die Folgen des Wandels für die Meeresökosysteme in der Arktis und können daher nicht vorhersagen, wie sich die Ökosystemleistungen in Zukunft verändern werden. Das ECOTIP-Projekt wird viele neue Erkenntnisse in diesem Bereich schaffen, von denen lokale Gesellschaften und die globale Gemeinschaft gleichermaßen profitieren können", sagt Dr. Marja Koski, Koordinatorin des ECOTIP-Projekts und Professorin am Nationalen Institut für aquatische Ressourcen der Technischen Universität Dänemark.

Expeditionen und Online-Tools

Chantal Mears nimmt Proben vom Schmelzwasser, um anschließend die Alkalinität zu bestimmen.

Chantal Mears (HZG) nimmt Proben vom Schmelzwasser, um anschließend die Alkalinität zu bestimmen. Foto: HZG/Claudia Schmidt

Für die kommenden Jahre sind weitere Expeditionen nach West- und Ostgrönland sowie in die Barentssee geplant. „Besonders spannend finde ich, dass wir neben den Analysen der Umwelt vor Ort auch ein interaktives Online-Tool entwickeln werden. Damit können Umweltfaktoren, wie beispielsweise Kupfergehalt, pH-Wert oder Wassertemperatur, und deren Wirkung einzeln und in Kombination dargestellt und vorhergesagt werden. Die Nutzer sehen direkt, welche Folgen Veränderungen auf das gesamte Ökosystem haben könnten“, so der Chemiker Helmuth Thomas. Damit könnten Wissenschaftler bessere Vorhersagen für die Zukunft treffen und Frühwarnmodelle entwickeln. Außerdem soll das Tool politische Entscheidungsträger im Entscheidungsprozess unterstützen.

ECOTIP: 16 Partner aus 10 Ländern


Claudia Schmidt, Chantal Mears und Torben Stichel bei der Probenahme von Meerwasser aus unterschiedlichen Tiefen aus dem Kongsfjord.

Claudia Schmidt (HZG), Chantal Mears (HZG) und Torben Stichel (AWI) (v.l.n.r.) bei der Probenahme von Meerwasser aus unterschiedlichen Tiefen aus dem Kongsfjord. Foto: AWI/Grit Steinhöfel

Sechzehn Organisationen aus Europa und darüber hinaus arbeiten an ECOTIP mit: Universität Aalborg, Universität Aarhus, Fisheries and Oceans Canada, Grönländisches Institut für Naturressourcen, GRID-Arendal, Helmholtz-Zentrum Geesthacht Zentrum für Material- und Küstenforschung, Universität Hokkaido, Institut für Ozeanologie der Polnischen Akademie der Wissenschaften, Meeres- und Süßwasserforschungsinstitut, Technische Universität Dänemark, UiT The Arctic University of Norway, Universität Kopenhagen, Universität Stirling, Universität Tokio, Universität Wien und Åbo Akademi Universität.

ECOTIP steht kurz für „Arctic biodiversity change and its consequences: Assessing, monitoring, and predicting the effects of ecosystem tipping cascades on marine ecosystem services and dependent human systems “. Das Projekt ist am 1. Juni 2020 offiziell gestartet und über vier Jahre finanziert. Das Forschungsprojekt wird dazu beitragen, eine kohlenstoffarme, klimaresistente Zukunft im Einklang mit den Zielen der nachhaltigen Entwicklung, dem Pariser Übereinkommen und der bevorstehenden UN-Dekade "Ozeanwissenschaften für nachhaltige Entwicklung" aufzubauen. Es wurde im Rahmen des Forschungs- und Innovationsprogramms "Horizont 2020" der Europäischen Union gefördert (Fördernummer 869383).

AWIPEV Forschungsbasis


Chantal Mears führt eine Filtration in einer Cleanbench im Labor durch.

Die Proben werden anschließend direkt im Kings Bay Marine Laboratory der Forschungsbasis aufbereitet. Hier führt Chantal Mears (HZG) eine Filtration in einer Cleanbench durch. Foto: HZG/Claudia Schmidt

Auf der norwegischen Inselgruppe Spitzbergen befindet sich eine der nördlichsten Siedlungen der Welt: Ny-Ålesund. Der Ort beherbergt das „größte Labor der modernen Arktis-Forschung“ – elf Länder betreiben hier Stationen und Forschungslabore. Forschende aus aller Welt und verschiedener Disziplinen der Polarforschung treffen hier am Kongsfjord aufeinander. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Frankreich und Deutschland arbeiten in Ny-Ålesund in einer gemeinsamen Einrichtung: der AWIPEV-Basis, betrieben vom deutschen Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) und vom französischen Polarforschungs-Institut Paul Emile Victor (IPEV).

Weitere Informationen


Video über das Projekt


Kontakt


Gesa Seidel Presse- und Öffentlichkeitsarbeit

Helmholtz-Zentrum Geesthacht - Zentrum für Material und Küstenforschung

Tel: +49 (0) 41 52 / 87 - 1784

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